Wolfgang Niedecken          
                          "Je älter der Seiltänzer wird, desto öfters guckt er nach unten"                                                                 Wolfgang Niedecken


LiLive in Helmbrechts , Kulturwelten am 08.10.2011



Als bekennender BAP-Fan freut man sich natürlich sehr, wenn man Wolfgang
Niedecken im August mit BAP hören konnte und dann nach ca. 2 Monaten zu den

Kulturwelten gleich nochmal, auch wenn es diesmal in einem völlig anderer Rahmen
war. Wobei so völlig anders war der Rahmen gar nicht, denn es war ja immerhin

meine zweite Niedecken-Lesetour, die ich live erleben konnte. Ein Bericht von der
ersten, mit der großartigen Geigerin Anne de Wolf gibt’s hier.

Und so war eigentlich das Fehlen von Anne der größte Unterschied, vom Ablauf war
das Konzept ziemlich ähnlich, etwas lesen, etwas singen, dann wieder lesen usw.

auch wenn Bob Dylan diesmal nur eine ganz ganz kleine Randerscheinung war.
Gelesen wurde aus seinem neuesten Buch mit dem Titel "Für ne

Moment". Ein 524- Seiten-Wälzer der passend zu Wolfgang Niedeckens 60.
Geburtstag in diesem Jahr erschienen ist. Meines Wissens seine inzwischen zweite

Autobiografie. Wobei dies keineswegs als Nachschlagewerk zum Leben des

BAP-Frontmanns zu verstehen ist. Auch nicht als eine "Ich tret jetzt mal nach" oder
"ich pack jetzt aus" Enthüllungsstory. Niedecken hat dem Autor Oliver Kobold, der den

Abend anmoderierte und dabei etwas davon preisgab, wie und warum das Buch in
den Jahren entstanden ist. Niedecken hat den Literaturwissenschaftler und Freund

Kobold stundenlang aus seinem Leben erzählt, es wurden unzählige Stunden
mitgeschnitten, die die Grundlage des Buches darstellten. Ein Teil davon wurde für

das Buch verwendet, allerdings könnte man sicher noch eine Fortsetzung schreiben,
soviel ist noch übrig und über das, worüber Niedecken nicht reden wollte steht sicher

auch nichts im Buch. Und allein das würde vielleicht ein weiteres Buch füllen, aber
dann würde durchaus ein Abrechnungsbuch daraus. Der Mann hat viel erlebt, ein

bewegtes Leben hinter sich (und ein hoffentlich noch viel bewegenderes vor sich) und
darüber handelt dieses Buch. Und daraus trägt er nun dem Helmbrechtser Publikum

einige Passagen vor. Es sind Teile aus dem Buch, die kleine Momentaufnahmen des

Niedecken-Lebens darstellen. Angefangen von seiner Kindheit im Nachkriegsköln im
Lebensmittelgeschäft der Eltern, über das Verhältnis zu seinen Eltern und speziell zu

seinem Vater wird ebenso berichtet, wie von den Erlebnissen im katholischen Konvikt,
die wenn man das hört, einen einmal mehr betroffen machen, trotz vieler

Medienberichte zum Thema Missbrauch in letzter Zeit. Vielleicht gerade auch deshalb
weil Niedecken, ohne wirklich ins Detail zu gehen, diesem Missbrauch ein Gesicht

gibt, jemand, der einen über Jahre mit seiner Musik begleitet hat und den man nicht
nur wegen der Musik sehr schätzt, berichtet darüber. Das ist anders als wenn man in

der Zeitung von einem Stefan P liest, den man gar nicht kennt. Es berührt einen noch 
viel mehr. Gestreift wird auch der Anfang seiner Musikerkarriere als Mitglied der

Schulband "The Convikts" und "The Troops", der Beginn von BAP mit dem
Konzertfiasko, das fast das Aus einer der wohl größten deutschen Bands aller Zeiten

bedeutet hätte. Auch die Liebe wird thematisiert die ihn auf einem Flug wie ein Blitz
trifft. Und auch seine Afrikareisen mit dem Thema Kindersoldaten in Uganda werden

gestreift, ebenfalls, wie schon beim Thema "katholischer Kirche", ein besonders ans
Gemüt gehender Moment an diesem Abend. Ein äußerst kurzweiliger Abend nicht

nur voller Traurigkeit. Im Gegenteil, immer wieder kann man auch schmunzeln und die
Musik tut dann natürlich ein Übriges dazu. Wolfgang Niedecken mit Akkustikgitarre

(genauer gesagt 2 im Wechsel, je nach Stück) und Mundharmonika ist

BAP-Unplugged und allein das hat man ja so reduziert nicht oft. Schade eigentlich,
eins wurde mir am Samstag einmal mehr klar. Wie gern würde ich ihm einen Abend

einmal unplugged Songs aus allen CDs spielen hören, nur mit kleiner Band incl. Geigerin Anne. Einfach spontan, ohne großes Konzept zusammen mit dem Publikum

einen interaktiven Konzertabend bestreiten lassen, ein "Songs and Questions-Evening" sozusagen, keine Ahnung wie man das in Kölsch bezeichnen

würde.

Das wärs. Dann gäbs auch mehr Zeit unvergessliche BAP-Hits zu spielen. Denn Samstag gabs davon nur wenige, denn die Songs bauten in erster Linie auf das zuvor rezitierte auf, bzw. erzählten davon.

Und so konnte man wenigstens in Wortfetzen erahnen um was es in den Song geht. Denn zu Mitgliedern "seiner Rasse" wie er die Kölsch sprechenden und verstehenden

bezeichnete, hat er die Helmbrechtser sicher nicht machen können. Dafür ist der Dialekt auch viel zu schwierig. Den Song "Verdamp lang her" gabs, da er vom

schwierigen Verhältnis zum Vater erzählt eines von vielen "Lebensliedern" an diesem Abend und der größte BAP-Hit. Ein Song der weit mehr Segen als Fluch für BAP bedeutete, wie er danach spontan bemerkte.

Eins machte der Abend auch deutlich, "Für ne Moment" muss man einfach als Hörbuch genießen, allein schon wegen der schönen Lesestimme von Wolfgang Niedecken.

Und doch fehlt dem Hörbuch, etwas, was die Besucher an diesem Abend zusätzlich geboten bekommen haben. Einen Musiker der auch heute noch gewaltig Spaß an

dem hat, was er tut. Der Ausdrucks- und Gestenreich das Publikum auf eine Reise durch sein Leben mitnimmt, so dass über 3 Stunden Programm die gefühlt grad mal 2
Stunden dauerten, wie im Fluge vergehen. Und der die Verbindungen des geschriebenen zu den Songs herstellt, etwas auf das man im Buch leider verzichten muss.

Und das kam an, wie gut kann man daran ermessen, dass der gut gefüllte Saal weitere Zugaben forderte, auch wenn es schon kurz vor Mitternacht geworden war.

Trotzdem musste irgendwann Schluss sein, schade ich hätte ihm auch noch länger zugehört. Bedauerlich ist übrigens auch, dass Josef Niedecken, Wolfgangs Vater, nicht mehr miterleben durfte, was aus seinem Sohn, mit dem er ein sehr zwiespältiges Verhältnis hatte, noch geworden ist. Nämlich einer der herausragenden Musiker 

unserer Zeit, einer der mit 60 Jahren noch lange nicht am Ende einer beeindruckenden Karriere steht. Zum Glück nicht, denn so kann man noch auf viele tolle Songs hoffen, wie z.B. das an diesem Abend gespielte Lied vom neuesten Album. Und vielleicht wird irgendwann doch ein Song mit dem Titel Hubertine (Name seiner Mutter) entstehen, auch wenn er den Namen für unsingbar hält, wie er an diesem Abend verkündete. Lassen wir uns überraschen, denn auch das wurde an diesem Abend überdeutlich. Niedecken ist noch lange nicht am Ende seiner Kreativität angekommen, Und so ist sowohl das bisherige Schaffen, wie auch das vorgestellte

Buch keine Lebensbilanz, allenfalls eine Zwischenbilanz oder um dem bekennenden Köln-Fan gerechter zu werden, Halbzeit. Auch wenn, wie er an diesem Abend sagt "die Einschläge näher kommen". Und er inzwischen schon viele Menschen an denen er gehangen hat, verloren hat. In diesem Zusammenhang ist auch obiges Zitat entstanden. "Je älter der Seiltänzer wird, desto öfters guckt er nach unten. Und dann stellt er fest: Da ist ja gar kein Netz. Das machst Du als junger Seiltänzer nicht".

Hoffentlich darf Wolfgang Niedecken noch ganz lange auf dem Seil tanzen und beschert dem Publikum noch ganz lange viele schöne Lieder und solch gelungene Abende wie diesen. Aber ein schlechtes BAP-Konzert wird es sicher eh nie geben.